Periit Pars Maxima
Kunstverein München (1986)
Zwischen Geburt und Tod hat die Musik seit Frühbeginn einen zentralen Stellenwert innerhalb jeder kultischen Handlung. Sie repräsentiert in Korrelation mit Riten und Bräuchen eine kosmologisch begriffene Weltordnung. Die Kräfte der Musikinstrumente allgemeine Prosperität zu beschwören, beziehungsweise alle deletären Ereignisse abzuwehren sind archetypische Motive. Sie unterliegen der Herrschaft des Großen Weiblichen, die auch im Mythos und Märchen die Herrin der „Verwandlung“ und des „Zauberischen Klanges“ ist.
Die zur Gruppe der unmittelbar geschlagenen Idiophone zählenden Glocken und Semanterien gehörten zu den wichtigsten kultischen Instrumenten der frühmusikalischen Zeit. Der Schlag markiert einen Punkt, der die vergangene Stunde anzeigt und die kommende ankündigt. Gleich dem Mond innerhalb der Natur sind auch Glocken und Semanterien als Symbole von Eros und Thanatos zu verstehen. Den astralen Bezug stellte Simon Vostre 1502 in dem schellenverzierten Narren seines Bildes „Livre d`heures“ dar. Die ambivalente Bedeutung begegnet uns nicht nur in dem mit Glöckchen behangenem Zaumzeug der germanischen Ehe-Göttin Frigge, der Gemahlin Odins, sondern auch in Wolfgang Amadeus Mozart’s „Zauberflöte“. Hier überreichen drei Hofdamen der Königin der Nacht dem Papageno das Glockenspiel als Geschenk (I,17) und verleihen ihm damit die Kraft, nicht nur Gewünschtes herbeizubeschwören, um die Affekte der Menschen zu beeinflussen, sondern auch Böses zu bannen.
Eine solche apotropäische Sinngebung beschreibt 1927 der englische Musikhistoriker Charles Burney: „Man hat mir gesagt, die Bayern wären in der Philosophie und anderen nützlichen Wissenschaften wenigstens dreihundert Jahre zurück, als die übrigen Europäer. Man kann es ihnen nicht ausreden, die Glocken zu läuten, so oft es donnert, oder sie dahin bringen, dass sie an ihren öffentlichen Gebäuden Blitzableiter anbrächten, obgleich die Gewitter hier so gefährlich sind, dass das vergangene Jahr im Kurfürstentum Bayern nicht weniger als dreizehn Kirchen verheert wurden. Die Erinnerung hieran war eben nicht sehr geschickt, mich zu beruhigen. Die ganze Nacht hindurch bimmelten die Freisinger mit ihren Glocken, mich an die Furcht zu erinnern und an die wirkliche Gefahr, worin ich schwebte. . . “ (1)
Im Semanterium, das bereits in vorchristlicher Zeit Zaubermittel jener Fruchtbarkeitskulte war, die um die Osterzeit gefeiert wurden, hat die Kirche Ritual und Brauch indogermanischer Völker mit dem christlichen Kult vereinigt. Der heute noch gültige Brauch „Pumpermetten“ abzuhalten ist durch das älteste Ritualbuch der Römisch-Katholischen Kirche, dem Ordo Romanus, aus dem 9. Jahrhundert belegt. „Als ältestes Zeugnis ist die kurze Schilderung des viel zitierten Sebastian Franck bekannt, der in seinem Weltbuch von 1534 in reformatorischer Polemik gegen „der römischen Christen Feste, Feier (. . .) und Breuch durch das gantz Jar“ folgendes sagte: „. . . da fahet man an drey nacht vor Ostern zu nachts metten zu singen, darein kumpt ein gross volck mitt hämmeren, steyn, schlegel, klüppfel, kolben, stecken, und klopffen zu bestimpter zeit über den armen Judas, machen zuvor finster und löschen alle liecht im tempel auss, man hat auch eygen instrument zu diesem schertz (. . .) Vil bosheit geschicht in diesem metten, die leut werden an die stul genagelt, etlich geschlagen, offt etlich geworffen und geschossen.“ (2)
Rituale und Bräuche waren in jener Zeit vitale Äußerungen, in denen Ängste, Freuden oder Trauer kollektiv ausgelebt werden konnten. Im Allgemeinen waren sie eine exakt definierte Gemeinschaft von Ausführenden gebunden, die sich dem Gesetz des Zusammenklanges fügten. Dies bedeutete für den Einzelnen Formung und Integration seiner Persönlichkeit. Jedem kam eine besondere Rangstellung zu und doch waren alle als gleichwertig zur Durchführung angesehen. Eingebettet in dieses soziale Denken und Handeln wurden Formen gefunden, den abstrakten Mächten und natürlichen Gewalten mit menschlichem Ausdruck und Ehrfurcht gegenüberzutreten.
Heute besteht kaum noch diese Möglichkeit, sich über den Wissensglauben zu erheben, um sich der deletären Entwicklung unserer Gesellschaft entgegenzustellen. In ihr wird der apotropäische Kult durch die „Abschreckungstheorie“ ersetzt, um eine viel unberechenbarere Gefahr der Menschheit zu bannen. Was sich früher in Naturereignissen und höheren Gewalten äußerte, ist heute eine nicht mehr sinnlich wahrnehmbare Bedrohung durch uns selbst, beziehungsweise der von uns geschaffenen künstlich wissenschaftlichen Systeme diametral zur Natur.
2 Moser Hans, Volksbräuche im geschichtlichen Wandel, Deutscher Kunstverlag, München, 1985